Vater
Hier in Erichshof wohnen einfache
Menschen. Bremen liegt in der Nähe,
aber wir frequentieren
die Stadt nicht.
Ich erinnere mich, damals rief
mir meine Frau zu: „Das Kind ist da!
Ein Sohn!“ Ich gestehe,
ich war sehr stolz – nach drei Töchtern.
Ich fütterte noch die Schweine,
dann ging ich hinein.
Luise sagte mir weinend, ich solle
ihr nichts antun, aber es sei doch
ein Mädchen, da! Mich traf beinahe
der Schlag. Verfickt nochmal!
Ich knallte die Tür zu, ging in die Arbeit,
in die Kneipe. Unterwegs sagte ich
dem Priester dann, er solle
das Balg baldmöglichst taufen.
Damit wir ja nicht verflucht werden.
Nun, das ging auch gut vonstatten.
Dora wurde am Sonntag tatsächlich
über das Taufwasser gehalten. Es verging
ein ganzes Jahr, bevor das Kind erkrankte.
Der Herr Doktor musterte Doras Muschi
so lange, dass ich schon dachte,
es stimme etwas nicht. Dann sagte er,
es sei doch ein Junge, ich solle doch
schauen, er habe nur eine Schnittwunde
am Hoden. Als der Herr Doktor ging,
meinten wir, es wäre besser, die Sache
gut sein zu lassen. Mädchenkleidung
hatten wir schon, das Kind war
bereits getauft.
Erik, der entbehrliche Trainer
Sie brauchten mich nicht. Nur das Regime
wollte mich. Gretel Bergmann,
die Jüdin, die nur wegen des amerikanischen
Boykotts in die Mannschaft kam,
brach beim Training den Staatsrekord.
Aber ich trug ihn offiziell nicht ein,
weil ich mich mit Protokollen
nicht herumschlagen wollte.
Sie würde ohnehin bei den Olympischen
Spielen so hoch springen, die Erde
hinter sich lassen – oder auch nicht.
Ihre Zimmergenossin Ratjen
wurde vom Herrn Minister lanciert,
erlag aber Bergmanns Charme,
statt die höchsten Sprünge zu vollziehen.
Ratjen hörte nicht auf mich:
Sie soff nur und tanzte mit den Jungs.
Sie war ein Niemand, flach
wie ein Brett. Ich kriegte bei ihr
keinen hoch. Elfriede dagegen, die Arme –
sie hatte nicht nur eine Latte
zu befürchten. Ihre spitzen Zähnchen
erinnerten mich an einen Vampir.
Bei den Olympischen Spielen wollten wir
den schwarzen Amerikanern zeigen,
wer die Besten sind, aber der Sprung
dauert nur einen Moment: Ein schlechter
Gedanke, etwas, worauf man sich
nicht vorbereiten kann,
bringt einen schließlich zu Fall.
Ich war genauso überflüssig wie das Bemühen,
die Weinenden zu trainieren.
Gretel Bergmann
Noch als Jugendliche floh ich nach London – aufgrund meiner Herkunft durfte ich in Deutschland keine Athletin sein.
Letztlich federte das international olympische Komitee die Teilnahme von Juden an den Spielen doch noch ein. Daraufhin erpressten mich die Nazis. Sie würden sich meine Familie vorknöpfen.
Für’s Trainingslager musste ich zurückkommen. Zuerst erwog ich, die Sprünge absichtlich zu verbocken. Dann zeigte ich doch an, was eine junge Jüdin kann. Ich schlug den Nationalrekord im Hochsprung.
Im Trainingslager wohnte ich in einem Zimmer mit Dora. Trotzdem sah ich sie nie nackt, oder beim gemeinsamen Duschen. Sie war sehr jung also hielten wir sie für schüchtern. Aber vielleicht hatte sie einfach nur Angst.
Den letzten Brief bekam ich am 16. Juli 1936. Sie bedauern es sehr, aber ich dürfe an den olympischen Spielen nicht teilnehmen. Die anderen Sportler waren da schon auf dem Weg nach Berlin. Ihnen wurde gesagt, ich hätte mich verletzt. Obwohl ich höher gesprungen war, ließen sie doch Ratjen an meiner Stelle teilnehmen.